2016-11-16

(Nicht) Von allen guten Geistern verlassen

Ich bin sehr stolz auf die Fans von Borussia Mönchengladbach, weil sie treu, sachverständig und in der Regel friedlich und fröhlich sind. Dass sie geduldig sind und dazu bereit, der behutsamen Aufbauarbeit von Präsidium, Management und Trainer, zu vertrauen, auch wenn das Rückschläge mit einschließt - das war jedenfalls ein großer Trumpf und ein Faktor des Erfolgs in den vergangenen Jahren. In Teilen der Anhängerschaft scheint sich dies aber in dieser Saison, besonders seit Oktober, radikal geändert zu haben.

Laut und lauter wird vor allem in den sozialen Netzwerken geschimpft und vornehmlich gegen den Trainer geätzt. Dass verschiedene Medien in der zweiwöchigen Leerlaufphase vor dem Derby sich ebenfalls an der "Mönchengladbacher Krise" abarbeiten, wundert nicht. Denn wer will, findet genug Belege dafür, dass der VfL seinen Zielen und seinem Leistungsvermögen hinterherhinkt. Allerdings sprechen mindestens genausoviele Dinge dafür, die Kirche im Dorf zu lassen und mit nüchternem Verstand an die Beurteilung dieses knappen ersten Saisondrittels heranzugehen. Erstens ist die Lage nicht so schlecht, dass man um die Existenz fürchten müsste. Und zweitens stehen die Zeichen mit zurückkehrenden Stammspielern auf Entspannung - zumindest, wenn man weiter an die Qualität der Mannschaft glaubt, wie sich sich in den vergangenen 13 Monaten immer wieder bewiesen hat. Ich jedenfalls tue das, auch wenn ich natürlich die vergangenen Ergebnisse (nicht unbedingt die Spiele) als Warnzeichen zur Kenntnis nehme.

Ich glaube, dass uns Borussia-Fans die Angst vor einem Rückfall in die sportliche Bedeutungslosigkeit nach Jahrzehnten erlittenem Graue-Maus-Dasein immer begleitet. Das hat jetzt fünf Jahre lang dafür gesorgt, dass im Umfeld keiner nach dem überraschend- dauerhaften Höhenflug der Mannschaft abgehoben ist. Doch die Angst war nie weg. Das ist sie auch bei mir nicht. Der Fehlstart vergangenes Jahr war ein Vorgeschmack darauf, wie schnell es wieder nach unten gehen kann. Damals standen die Fans zwar krtitisch und verzweifelt, aber denoch wie eine Wand hinter Mannschaft und Verein. Jetzt, wo die Situation nicht mal annähernd so dramatisch ist, ist das erschreckend anders.

Ein Grund: Es steht nicht mehr der Fußballlehrer und Heilsbringer Favre am Spielfeldrand, dem man all das zu verdanken hat. Deshalb fällt es offensichtlich leichter, den Frust an einer Person festzumachen - dem Trainer. Und die Gesamtsituation außer Acht zu lassen.

Wenn man in manchen Forum in Kommentarspalten mitliest, glaubt man, ein ganzer Haufen von Gladbachfans ist von allen guten Geistern verlassen. Ich sage es ehrlich und ganz deutlich: Ich hasse es, wenn Borussias Umfeld sich anhört wie das vom FC Nörgel 04. Ich hasse es, wenn man einfache Lösungen für eine hochkomplizierte Welt propagiert. Das funktioniert nicht in der Politik und es funktioniert nicht im Fußball.
Die Gründe, warum Borussia den gestiegenen Erwartungen derzeit nicht gerecht werden kann, lassen sich nicht an einer Hand aufzählen. Es spielen verschiedene Dinge hinein - sogar Pech. Und bevor man an die Aufarbeitung der Gründe geht, muss man auch die Frage stellen, ob die Erwartungshaltung nicht vielleicht zu hoch und das Urteil darüber noch zu früh ist.

Es ist durchaus möglich, dass auch der Trainer (und sein Team - übrigens das bis auf den Fitnessbereich das Gleiche, mit dem Lucien Favre arbeitete) seinen Anteil daran hat, dass das Abschneiden in der Bundesliga nicht so ist, wie wir es gern hätten. Ob der VfL besser und erfolgreicher spielen würde, wenn man einen neuen Trainer holen würde, ist aber reine Spekulation. Denn oft genug hat diese Mannschaft in den vergangenen Monaten am Limit gespielt. Das darf man bei allem Lob, das über dem Verein ausgeschüttet wurde, auch nicht vergessen. Gladbach hat (sportlich wie wirtschaftlich) Grenzen, über die es sich nicht dauerhaft hinausquälen kann.

Ich will dafür sensibilisieren, dass man manchen Rückschlag eben auch realistisch einordnet und sich nicht in der Bewertung von Entwicklungen, die noch lange nicht am Ende sein müssen, fehlleiten lässt. Denn eins ist doch auch jedem klar: Macht die Mannschaft im Endspurt des Jahres ihre Aufgaben, ist von Krise keine Rede mehr. Am besten beginnt man das mit einem Sieg gegen die in dieser Saison viel zu harmonisch vor sich hingrasenden Ziegen aus K*ln. Doch dafür braucht es ein "einig Volk von Brüdern", kein ausverkauftes Stadion, das bei ein paar Unsicherheiten oder Rückpässen noch vor der Pause damit beginnt, die eigene Mannschaft auszupfeifen. 

These 1: Borussia unter Schubert ist Stillstand, er profitiert nur von Favres Vorarbeit, jetzt überfordert und verunsichert er die Spieler mit seinen vielen Wechseln und taktischen Ideen.


Abgesehen davon, dass viele Kommentare in den sozialen Medien von Fans kommen, die die Taktik eines Spieles vermutlich gar nicht in Echtzeit nachvollziehen können. Auch der letzte sollte inzwischen verstanden haben, dass es die eine Taktik über 90 Minuten gar nicht mehr gibt. Bei Borussia nicht und nicht bei den anderen Teams. Je nach Spielsituation ändern sich die Abwehr- oder Angriffsformation fließend. Da sind im ruhigen Spielaufbau zum Beispiel mal zwei Innenverteidiger mit einem Sechser auf einer Linie, der den Ball nach vorne bringen soll. Manchmal bieten sich die Außenverteidiger an, die heute halbe Außenstürmer sind, aber in bestimmten Abwehrkonstellationen auch in die Mitte einrücken müssen, um Räume abzusichern oder Passwege von Gegenspielern zumachen zu können. Ohne Ball wird aus der nominellen Dreierkette leicht eine Fünfer- oder gar Sechserkette, bei Standardsituationen gelten vorne wie hinten wieder andere Regeln.
Ob da nun auf dem Papier mit Dreier-, Vierer- oder Fünferkette verteidigt wird, ist unerheblich, solange jeder auf dem Platz seine Aufgabe erfüllt. Klappt das nicht, verliert man wahrscheinlich. Das geht auch Dortmund oder Leverkusen so. Und ganz selten den Bayern. Auch im Spiel nach vorne werden Positionen ständig gewechselt, phasenweise wird aggressiv und hoch gepresst, dann wieder der Gegner kommen gelassen.
Das alles ist eine hochflexible Angelegenheit, die nur die Spieler von heute so perfekt hinbekommen - weil sie frühzeitig so ausgebildet worden sind.
Bestes Beispiel sind da die Bayern mit ihren schier unbegrenzten Möglichkeiten, das Spiel anzupassen. Borussia ist unter Favre taktisch näher an diese Topteams herangerückt. Erreicht hat er sie nicht. André Schubert hat diese Entwicklung in dem guten Jahr, das er hier tätig ist, eindrucksvoll fortgeführt. Erst mit der großen Euphorie des Wechsels, in der Rückrunde mit dem "Vorteil", keine Kraft mehr  in den Pokalwettbewerben lassen zu müssen.
Schon da war zu sehen, dass Trainer und Mannschaft in der Lage waren, aus Fehlern zu lernen, speziell aus dem üblen Einbruch im vergangenen Dezember, als Yann Sommer und einer ausgepowerten Mannschaft die Gegentore nur so um die Ohren flogen.

These 2: Schubert ist arrogant und nicht kritikfähig


Es ist interessant, wie alte Geschichten (von St. Pauli oder Paderborn) bei Schubert sofort herausgeholt werden, wenn er auf dumme Fragen mal etwas unwirsch reagiert. Bei Jürgen Klopp, Freiburgs Streich oder Hans Meyer lachen alle, wenn sie einen Journalisten abkanzeln, bei anderen Trainern (Stevens) werden knurrige Antworten als Charaktereigenschaft oder als das lobenswerte "Vor-die-Mannschaft-stellen" interpretiert.
Schubert wird viel, was er derzeit sagt, negativ ausgelegt. Das mag alles auch eine Frage des Tons oder der gerunzelten Stirn sein. Doch auch Lucien Favre brachte vieles nicht so rüber, wie er es wohl gemeint hatte. Daraus erwuchs auch so manches (mediales) Missverständnis - ohne das er dafür abgestraft wurde. Also sollte man auch André Schubert gegenüber gerecht sein. Bemerkenswert ist allerdings, dass sein Kredit so schmal ist. Bei den Medien, die schnell Zweifel säen, wenn es mal nicht so läuft. Aber auch bei Fans, die gar nicht beurteilen können, wie Schubert im Verein angesehen ist und vor allem, ob und wie gut er im täglichen Geschäft mit der Mannschaft arbeitet. Ich weiß es auch nicht, da ich nicht vor Ort bin. Bislang hat er das Team allerdings auch aus schwierigen Phasen herausgeholt, im erwähnten Dezember-Tief und nach dem Pokal-Aus gegen Bremen.

These 3: Schubert ist nicht erfolgreich

Die bisherige Bilanz des andré Schubert sagt etwas anderes. Was wird dem Trainer eigentlich vorgeworfen? Ein äußerst erfolgreiches Jahr liegt hinter Borussia, mit der Qualifikation für die Königsklasse, nachdem man anfangs auf den Abstiegsplätzen rumkrebste. Und in dieser Saison? In der Champions League ist Borussia auf Kurs Euro-League und hat die Verteidigung des dritten Platzes in der Gruppe in der eigenen Hand. Dass Platz eins oder zwei nicht realistisch sein würden, wussten wir schon bei der Auslosung. Also alles im Lot.

Im DFB-Pokal ist Borussia sicher in die dritte Runde gekommen, gegen eine Zweitliga-Mannschaft, die aber über einen Erstligakader verfügt.Auch hier: Alles im Lot.

In der Bundesliga liegt die Schubert-Elf auf Platz elf unter den eigenen Ansprüchen. Der Zug nach oben ist erstmal abgefahren, der Blick nach hinten in der Tabelle Pflicht. Aber es ist noch nicht einmal ein Drittel der Saison vorbei, Zeit genug also zu korrigieren. Stand ist: Niederlagen gab es bislang gegen Freiburg (ein dauerhafter Angstgegner), Schalke, Bayern (muss man in Kauf nehmen) und Hertha (das erneut in der Spitze mitspielt). Unentschieden gegen die Überraschungsmannschaften aus Leipzig und Frankfurt sowie den HSV. Bei all diesen Spielen ist nicht so sehr der nackte Fakt der Niederlage oder der Punktverluste das Problem, sondern die Art und Weise, wie sie zustande kamen. Chancenlos gegen Bayern, schwach gegen Freiburg. Bei den restlichen Spielen wäre bei besserer Chancenverwertung und weniger Blackouts in der Defensive (Schalke) sicherlich sechs Punkte mehr drin und verdient gewesen.

Erschreckend ist die Bilanz der vergangenen Bundesligaspiele. 0:4, 0:2, 0:3, dazu zweimal 0:0, das macht in fünf Spielen die bittere Bilanz von 0:9 Toren. Egal ob beim Kicker oder in der Bild - diese Serie muss für die "Krise", den Niedergang der Borussia, herhalten. Es wird gefragt, warum die Mannschaft ohne Raffael und Hazard nicht mehr in der Lage ist, Tore zu erzielen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit.
Hätte sich Borussia seitdem keine Torchancen mehr herausgespielt, müsste man das mit Ja beantworten. Doch Gelegenheiten gab es wahrlich genug. Und nur Sportjournalisten können auf die Idee kommen, fünf Bundesligaspiele zusammenzuzählen und dabei die dazwischen stattfindenden CL- und DFB-Pokalspiele zu ignorieren. Das ist blanker Unsinn. Borussia ist nun einmal nicht seit fünf Spielen torlos, denn Spieler schalten nicht vom Bundesliga-Modus in den Champions-League-Modus und zurück. Für sie folgt ein Spiel auf das nächste, egal in welchem Wettbewerb. Folglich liest sich die (nicht wesentlich, aber doch etwas bessere Bilanz seit dem Schalke-Spiel auch korrekt so: N - U - S - N - S - U - U - N. Aus den 0:9 werden mit zweimal Celtic (3:1) und einmal Stuttgart (2:0) folglich 5:10 Tore. Damit wird André Schubert natürlich nicht gleich zum Kandidaten für den Titel "Trainer des Jahres", aber auch nicht zum Abschuss freigegeben. Ganz ehrlich, in einer solchen Situation entlässt eigentlich nur Schalke 04 seine Trainer. Und ich möchte, dass das auch so bleibt.


Der Grund für die Ergebnis-Krise liegt aus meiner Sicht deutlich mehr auf Seiten der (verletzten und außer Form spielenden) Rautenträger auf dem Feld als auf Trainerseite. Es ist ausgelutscht, aber ohne Raffael und teilweise ohne Hazard, Traoré, Johnson und Christensen fehlte dem VfL zuviel, um auch im Drei-Tages-Modus alle Gegner aus den Stadien zu schießen. Es mag sein, dass Schubert bisweilen für die Personalsituation zu viel Wechsel gewagt hat. Doch gerade das Beispiel Schalke-Wechsel in der Pause zeigt ja, dass das, was er macht, Hand und Fuß hat. Der offensive Wechsel hat Borussias Spiel damals enorm belebt, das Tor für uns war nur eine Frage der Zeit. Dass auf der anderen Seite individuelle Fehler den Plan zerstören, sollte man dann nicht dem Trainer anlasten. Aber besser weiß man es ja immer erst nachher.


Wahr ist aber auch, und damit schließt sich der Kreis dieses Textes: Die jüngsten Widrigkeiten sind weitgehend ausgestanden. Die meisten Verletzten sind wieder da, in den vergangenen Tagen konnte zumindest ein Teil der Mannschaft durchatmen und Kraft sammeln. Ich bin gespannt auf die Reaktion der Mannschaft. Denn wenn die mildernden Umstände wegfallen, muss der Borussen-Express eben auch wieder Fahrt aufnehmen und das gegnerische Tor treffen.
Am Samstag im Derby dürfte wieder die nominell stärkste Elf in den Borussia Park einlaufen können. Und auch wenn sie unter Druck steht - einen Sieg kann man unter diesen Vorzeichen erwarten. Und damit will ich die K*lner Mannschaft nicht geringschätzen, sie zeigt bislang eine bärenstarke Saison und steht völlig zurecht auf dem derzeitigen Tabellenplatz. Ein Grund mehr, sie von dort wieder herunterzuholen und auf Normalmaß zu stutzen. Und darauf freue ich mich, trotz der zuletzt doch eher tristen Wochen auf und vor allem abseits des Rasens. Und ich bin sicher, dass alle VfL-Fans sich das genauso wünschen, alles dafür tun wollen und das auch nicht vergessen, wenn es im Spiel vielleicht gerade mal nicht so läuft. Die Seele brennt...

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