2017-12-25

Was zu videobeweisen wäre

Gut, Dieter Hecking hat keinen Bock mehr, jede Woche über die Sinnhaftigkeit des Videobeweises zu diskutieren. Max Eberl und seine Managerkollegen in der Bundeslige versuchen krampfhaft, nichts Negatives gegen das Experiment des Jahres zu sagen, um den Videobeweis nicht schon vor Ende seiner Bewährungszeit am Ende der Saison kaputtzureden. Und wir alle sind genervt über die unterschiedlichen Auslegungen und wechselnde Qualität der Entscheidungen.

Es hilft ja nichts. Ich muss doch mal ganz grundsätzlich auf das Thema "Videoassistenzsystem" (VAR) eingehen, diese Operation am offenen Herzen der Fußball-Bundesliga, die in dieser Saison von einem Chirurgen namens DFB ausgeführt wird - in der Variante "learning by doing" und der Methode "Versuch und Irrtum". Ständig wird das OP-Besteck gewechselt, mal da, mal da am Patienten herumgeschnippelt. Und wenn was schief geht, muss der Patient eben damit leben - die Vereine haben den Arzt im Vorfeld in einer Blanko-Patientenerklärung ja quasi schon von aller Schuld freigestellt.

Meine Position zu dem technischen Hilfsmittel ist folgende: Ich begrüße alles, was das Spiel gerechter macht. Es ist für die Spieler und die Vereine wichtig, aber vor allem auch für uns Fans im Stadion und am Fernseher. Kann ein Videoassistenzsystem dazu beitragen, dass es weniger falsche Entscheidungen auf dem Spielfeld gibt, dann bin ich dafür - aber unter bestimmten Voraussetzungen, die dann bitte auch auf allen Plätzen gleichermaßen gelten.

Es ist unstrittig, dass die Torlinientechnik ein Gewinn für den Fußball ist. Man braucht sie kaum, weil es nicht so viele strittige Szenen gibt, bei denen nicht klar zu erkennen ist, ob der Ball sich hinter, vor oder noch ein bisschen auf der Linie befindet. Wenn sie aber gebraucht ist, ist die Torlinientechnik zuverlässig zur Stelle. Somit ist eine der traumatischsten Erfahrungen für Spieler und Fans ausgeschlossen - dass ein regulär erzieltes Tor nicht zählt, nur weil das Schiriteam vielleicht eine schlechte Sicht auf den Ball hatte.

So weit, so gut. Bei der Bewertung von Spielszenen per Videoanalyse liegt allerdings ein viel weniger einheitliches Hilfsmittel vor. Eins, das nicht auf mathematischer Präzision beruht, sondern auf der Bewertung von sehr unterschiedlichen Situationen und Zweikampfkonstellationen durch Menschen. Eine Vergleichbarkeit von Situationen und ihrer jeweiligen Bewertungen durch unterschiedliche Schiedsrichter fällt also schon mal schwer - wenn der Versuch nicht schon von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Das ist die große Hypothek, die der Videobeweis mit sich herumschleppt, ja schleppen muss.

Das ist aber noch nicht alles. In dem einen Stadion bemüht der Schiedsrichter den Videobeweis trotz strittigster Szenen gar nicht. In einem anderen werden Szenen überprüft, die mehrere Spielzüge vor dem eigentlichen Prüfgegenstand (Tor, Abseits, Elfmeter) stattgefunden haben. Im dritten Stadion werden trotz Zeitlupen-Studiums objektive falsche Entscheidungen gefällt. Mal schaut der Schiri im Stadion selbst noch einmal nach, in anderen verlässt er sich auf die Bewertung des Kollegen aus dem Videoraum in Köln. Das ist schwierig - denn der Schiri auf dem Platz soll schließlich nach offizieller Lesart die Entscheidungshoheit haben. Das Vertrauen in den Kollegen in Köln in allen Ehren: Wie soll sichergestellt sein, dass der Hauptschiedrichter eine Szene genauso bewerten würde wie der vor dem Bildschirm? Und in den Stadien haben die Zuschauer oft keinen Schimmer, was da unten warum und von wem jetzt eigentlich entschieden wird.

Der DFB, der die bislang völlig unzureichende Umsetzung des Pilotprojekts inklusive mehrerer Veränderungen der "Spielregeln" von Spieltag zu Spieltag zu verantworten hat, scheint nicht in der Lage zu sein, ein klar strukturiertes Konzept auf den Tisch zu legen. Man will - wahrscheinlich - zu viel auf einmal und gefährdet damit leichtfertig die Akzeptanz des ganzen Projekts. Dieter Hecking und Max Eberl haben recht, wenn sie für die Beibehaltung des Videobeweises plädieren, auch wenn er schon viel zu viele sichtbar ungerechte Ergebnisse hervorgebracht hat, die sich in der echten Punktebilanz der Bundesligisten wiederspiegeln - oder eben in fehlenden Punkten. Denn auf der anderen Seite hat die neue Technik auch schon sehr viele falsche Entscheidungen verhindert. Auch Borussia hat davon bis jetzt stärker unter dem Strich wohl mehr profitiert als zuletzt darunter gelitten.

Doch das grundsätzliche Problem sind alle bezweifelbaren Entscheidungen - und die, die nicht überprüft werden, obwohl es Grund dazu gäbe. Da zeigt sich das Problem. Spielszenen lassen sich nicht nach so einfachen Kriterien abhaken wie "Ball hinter der Torlinie oder nicht". In Echtzeit sind Zweikämpfe, Handspiele oder Abseits schon schwer zu bewerten. Die Schiedsrichterteams sind aber hierin hervorragend geschult - sie beherrschen das so gut wie im Vergleich der Spieler den zentimetergenauen Pass oder das Timing beim Kopfball. Dass dabei Fehler passieren, die dann gravierende Folgen haben können, auch das eint Schiris wie Fußballer.

Beim Videobeweis kommt jetzt eine neue Ebene dazu: die Zerlegung von Szenen in Zeitlupenbilder, und dies auch noch aus verschiedenen Perspektiven. Jeder kennt es aus dem Fernsehen, dass Zweikämpfe aus einem Kamera-Blickwinkel wie klare Fouls aussehen, aus einer anderen schon nicht mehr so eindeutig und aus der dritten wie ein regelkonformer Einsatz. So war es auch ein bisschen beim strittigen Rempel-Duell zwischen Caligiuri und Wendt im Schalke-Spiel, das Borussia nach Videobeweis den unzweifelhaft gerechtfertigten Elfmeter kostete. In der Regel wird der Schiri dann, sofern er einen guten Blick auf die Szene hatte, in der Echtzeit die bessere Entscheidung treffen, weil er da die Dynamik, die Geschwindigkeit, die Vehemenz des Einsatzes besser beurteilen kann als in der Slow-Motion. 
In Zeitlupe, das zeigen ja die Erfahrungen bisheriger Videobeweisentscheidungen, lassen sich schlecht sichtbare Fouls, zum Beispiel das "auf den Fuß treten" beim Versuch, den Ball zu erreichen, ziemlich gut herausarbeiten. Ob aber ein kleiner Stoß in den Rücken wirklich ausschlaggebend dafür ist, dass ein Gegenspieler ins Straucheln gerät oder fällt, lässt sich in der verlangsamten Ansicht nicht viel besser beurteilen als in Normalgeschwindigkeit.

Was ist also der Weg aus dem Dilemma?

Eine Ideallösung ist nicht aus dem Hut zu zaubern. Es geht aus meiner Sicht nicht ohne eine klare Abgrenzung, wann der Videobeweis zum Einsatz kommen soll und wann nicht. Und diese muss deutlich enger gefasst werden als jetzt. Es kann nicht sein, dass in einem Stadion mal Szenen bis zu 30 Sekunden vor einem Torerfolg überprüft werden und andernorts nicht. Dass der Schiri mal selbst einen Blick darauf wirft und dann wieder nicht. Das mag bei Abseitsentscheidungen in Ordnung sein, nicht aber bei kniffligen Foul-oder-nicht-Szenen. Auf die Probleme, die das für den Referee und sein Team auf dem Feld mit sich bringt, komme ich später nochmal zurück.

Wir müssen uns darüber klar sein, dass sich komplette Gerechtigkeit auch mit diesem Instrument nicht herstellen lässt. Das bedeutet, man sollte sich im Interesse des Sports beschränken. Eine Möglichkeit wäre, nur noch Strafraumszenen (also Elfmeter, Handspiel - oder Offensivfoul bei Torerfolg) zu prüfen. Dazu noch die Frage, ob ein Foul-/Handspiels im oder außerhalb des Strafraums erfolgt ist und (auch außerhalb der Strafräume) natürlich Abseits bei folgendem Torerfolg und mögliche Tätlichkeiten. 
Das verhindert dann leider noch nicht andere möglicherweise spielentscheidende Fehlurteile, also etwa das Foul im Mittelfeld an einem ballführenden Spieler, aus dessen Ballverlust ein Gegentor folgt. Oder Gelbe Karten für Foulspiele außerhalb der Strafräume, die zu Platzverweisen führen würden - zum Beispiel die beiden nahezu identischen Ellenbogenschläge von Leverkusens Havertz gegen Ginter im DFB-Pokal. Bei einer Überprüfung durch Videobeweis hätten sie zwingend auch zweimal mit der gleichen Strafe, zwei Verwarnungen, belegt werden und zum Platzverweis führen müssen. Doch der Videobeweis gilt bekanntlich im Pokal erst ab dem Viertelfinale, was nebenbei gesagt eine völlig absurde Ungleichberechtigung ist.

Die Beschränkung auf einen einheitlichen Katalog von Entscheidungen, die im Ernstfall überprüft werden, könnte helfen, die Akzeptanz der Entscheidungen bei allen Beteiligten deutlich zu stärken. Da ich auch gern mal live oder im TV Eishockey schaue, kenne ich das Mittel des Videobeweises schon viel länger als er jetzt im Fußball gilt. Dort wird er ausschließlich zu Ermittlung Tor/kein Tor beziehungsweise zur Frage "regulär erzieltes Tor oder nicht" (Spieler im Torraum, Behinderung des Torwarts, Schlittschuhtor o.ä) eingesetzt. Die Akzeptanz im Publikum und bei Spielern und Trainern habe ich dort immer als sehr groß empfunden. Wenn der Schiri sich hier die Bilder selbst angesehen hatte und entschieden hatte, konnte man sich darauf verlassen, dass die Entscheidung auch ok ist.

Ich glaube, Rainer Calmund war es, der den Vorschlag gemacht hatte, dass die Videoassistenten besser fest zum Schiriteam im Stadion gehören sollten und auch im Stadion selbst sitzen sollten. Das klingt für mich sehr vernünftig. Denn wenn man überlegt, dass die Dreierteams aus Schiedsrichter und Assistenten an der Seitenlinie meist über Jahre eingespielte und gut interagierende feste Teams sind,  dann kann der ständig wechselnde, in Köln sitzende Hauptschiedsrichterkollege kaum ein Teil dieses eingespielten Teams sein. 
Ein weiteres Problem: Der Schiri und der am Videoschirm sind zwar Kollegen mit ähnlicher Erfahrung, aber auch Konkurrenten - etwa um Einsätze in der Bundesliga oder internationale Berufungen. Und wie wir wissen, sind sich Teile der Eliteschiedsrichter in Deutschland untereinander auch keineswegs grün. Ob das zu den schon beobachteten seltsamen Entscheidungen in dieser Saison beigetragen hat, kann ich nicht beurteilen. 
Es könnten aber solche Einflüsse eine Rolle spielen - egal ob das Motiv des Videoschiris nun ist, dass er seine Rolle besonders gut ausfüllen will oder ob er einfach eine andere Art der Spielleitung bevorzugt und an die Szenen eine etwas andere Bewertungsmaßstab anlegt. Wir wissen doch alle, dass manche Schiris gern viel laufen lassen, andere viel wegpfeifen. Ich stelle es mir für erfahrene Buli-Schiedrichter schwer vor, das am Videoschirm ganz auszublenden und sich voll auf den Stil des Kollegen im Stadion umzustellen.
Ich könnte mir vorstellen, dass es wirklich sinnvoll wäre, Videoassistenten speziell auszubilden und gemeinsam mit dem Gespann zu schulen und einzusetzen statt wie jetzt in Köln jede Woche andere noch pfeifende oder "im Ruhestand" befindliche Bundesliga-Kollegen zuzuordnen. Das gäbe den Teams die Chance, sich gut aufeinander einzuspielen und eine einheitliche Linie zu finden, die den Spielen zugute käme. Dann würde es von Spiel zu Spiel natürlich weiterhin unterschiedliche Regelauslegungen von den unterschiedlichen Schiedsrichterteams geben - aber eben nicht mehr so sehr innerhalb eines Spiels.

Auch wenn ich mich schon oft geärgert habe: Es ist spannend, die Entwicklung des Videoassistenten in der Bundesliga zu beobachten. Ich kann die Ungerechtigkeiten, die daraus entstanden sind und noch entstehen, nicht gut ertragen. Aber ich denke, dass es ein Mittel ist, viele Fehlentscheidungen zu vermeiden - wenn man sich auf das beschränkt, was vergleichbar ist und die Willkürlichkeiten der Hinrunde abgestellt werden.
Was der Videobeweis und der VAR im Nacken des Stadionschiedrichters allerdings langfristig mit dem Spiel und der Art zu pfeifen macht, steht auf einem anderen Blatt Papier. Darüber lässt sich nach 17 Spieltagen nur spekulieren. Ich erwarte schon, dass sich Schiris im Stadion mit der Instanz im Hintergrund einerseits sicherer fühlen, weil sie ihre Entscheidung im Zweifel revidieren können, falls sie doch falsch war. Andererseits ist ein Schiri auch leicht unter Druck, das Hilfsmittel nutzen zu müssen, vor allem, falls sich sonst herausstellt, dass er falsch lag. Das kann einen Unparteiischen auch zusätzlich unter Druck setzen oder in einem sehr umstritten geführten Spiel auch noch unsicherer machen. Spannend wird auch zu beobachten, wie sich die Neuerung langfristig auf daa Abseitswinken des Assistenten an der Seite auswirkt. Grundsätzlich wäre es im Sinn des Spiels, bei engen Abseitsentscheidungen lieber öfter mal die Fahne untenzulassen, weil dies bei Torerfolg ja nochmal überprüfbar wäre. Wird das Spiel dagegen fälschlicherweise unterbrochen, ist der Angriff natürlich nicht mehr zu wiederholen. Für mich ergab sich dieser Eindruck allerdings bisher noch nicht - was auch weiterhin zu verschiedenen zu Unrecht weggewunkenen Angriffen (nicht nur des VfL) geführt hat.

Nun gut. Ich bin gespannt, ob der DFB und die Schiedsrichter aus den durchwachsenen Erfahrungen mit dem VAR in der Hinrunde lernen und ob sie es schaffen, das Instrument künftig so eng umgrenzt wie möglich einzusetzen - vor allem aber so, dass man nicht den Eindruck hat, dass die einen Ungerechtigkeiten und Fehlentscheidungen aus der Vergangenheit nun nur durch andere ersetzt werden. Dann hätte der Videobeweis in der Tat bald ausgedient. Und dann wäre es auch nicht schade um ihn. 
Wer weiß, vielleicht könnten wir mit dieser Erfahrung auch die fehleranfällige, weil menschliche Instanz, die Tatsachenentscheidung des Schiris auf dem Platz, auch wieder mehr würdigen als wir es heute tun. Denn in der Regel machen die Unparteiischen während eines Spiels doch immer noch weniger Fehler als jeder Spieler auf dem Platz. Das vergisst man ja schnell im Eifer des Gefechts - und davon nehme ich mich ausdürcklich nicht aus.

2 Kommentare:

  1. Vielen Dank für diesen ausführlichen Kommentar zu dem echt schwerem Thema.

    Vornweg: Der VAR in dieser Form muss weg!!! Ich finde es unerträglich, wie eine subjektive Entscheidung auf dem Platz durch eine ebenso subjektive Entscheidung aus K*** ausgetauscht wird. Im Stadion hemmt es total, weil kein spontaner Jubler ohne auf die Rückkopplung aus K**** zu warten mehr funktioniert. Das ist nicht der Sport, wofür ich live ins Stadion gehe. Am Fernseher ist das ärgerlich - aber im Stadion nicht auszuhalten!!!

    Gut wäre der VAR, wenn er klar definiert und sich nur auf ja/nein Entscheidungen beziehen würde. Also im Strafraum ja/nein, Ball schon aus ja/nein, Tätlichkeit ja/nein, Abseits ja/nein meinetwegen, und immer wenn der SR sich fragt wars was? ja/nein usw.

    Aber auf keinen Fall für 1-2 Spielstationen später und auf keinen Fall aus der Ferne! Wenn dann, den Video-SR im SR-Team und im Stadion implementieren. Denn nur so lassen sich die Stimmung und die "Pfeiffweise" im Spiel aufnehmen. Und der SR sollte sich die strittigen Szenen selbst ansehen und bewerten - sonst braucht es den Kammeraden auf dem Platz nicht. So können wir dann per Mousklick die Spiele voten und am Ende dem DFB danken - nee danke. Also macht was draus oder lasst es sein!

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  2. Dem ist aus meiner Sicht nichts hinzuzufügen. So sehe ich das auch! Es MUSS endlich klare Regeln geben, die konsequent umgesetzt werden. Nicht heute so und morgen so. VAR im Stadion ist ebenfalls eine sehr gute Idee, raus aus dem Keller. Gruß, Fohlen

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